4. November

Bewaffnete Matrosen ziehen am frühen Morgen von Kaserne zu Kaserne, teils an die Stelle des Zusammenstoßes an der Karlstraße, teils ziellos durch die Stadt. 8 Uhr: 75 bewaffnete Matrosen aus einer Unterkunft Fehrstraße/Ecke Knooper Weg drängen in eine andere Kaserne in der Prüne ein und erbeuteten Munition und Waffen. Die in der Prüne (Turnhalle) untergebrachte Kompanie schließt sich den Matrosen an und zieht zur nächsten Kaserne. Die Matrosen erreichen die Kaserne am Eichhof, um gefangene Matrosen zu befreien. Hier treffen sie jedoch auf kaisertreue Soldaten und schrecken vor Gewalt zurück. Nach ihrer Rückkehr in die Prüne werden sie entwaffnet und verhaftet. 10 Uhr: Arbeiter der Kruppschen Germaniawerft und der Torpedowerke in Kiel-Friedrichsort legen die Arbeit nieder. Vormittags treffen sich die Obleute der Kieler Großbetriebe im Kieler Gewerkschaftshaus und beschließen den Generalstreik für den 5. November. 13 Uhr: Gehorsamsverweigerung der Matrosen im Militärstadteil Kiel-Wik. (1.Torpedo-Division, ebenso die Werft- und U-Boot- Division ). Der Stadtkommandant und der Militärobermeister melden kurz darauf, dass sie nicht mehr Herr der Lage sind.
Exemplarisch ist die Befehlsverweigerung der I. Torpedodivision. Die Matrosen beschließen, die Kaserne zu verlassen und an einer Demonstration teilzunehmen. Laut Bericht von Lothar Popp lässt der Kommandeur der Division, Kapitän zur See Bartels, die Division antreten. Dort formuliert er, dass Soldaten keine Ahnung von Politik hätten und deshalb auch keine Politik machten. Soldaten hätten statt dessen zu gehorchen und gehorchen auch. Den Befehl zum Abtreten ignoriert die Division. Einige Matrosen unter der Führung von Karl Artelt überbringen dem Kommandeur eine Botschaft an das Gouvernement. Sie fordern die Abdankung des Hohenzollernhauses, die Aufhebung des Belagerungszustandes; die Freilassung aller Inhaftierten vom III. Geschwaders; die Freilassung aller im Zuchthaus von Zelle einsitzenden Kameraden von der Matrosenerhebung im Jahr 1917; die Freilassung sämtlicher politischer Gefangenen und die Einführung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts für beide Geschlechter. Der Divisionskommandant überbringt die Botschaft, worauf es um 15 Uhr zum Treffen im Stationsgebäude kommt. In der Zwischenzeit schwenken die auf dem gleichen Kasernengelände liegenden I. U-Boot-Division und die I. Werft-Division zu den Revolutionären über.
15 Uhr: Erste Verhandlungen zwischen Gouverneur Souchon mit den Matrosen sowie Vertretern von USPD und MSPD. Karl Artelt stellt seine Delegation als Soldatenrat vor. Souchon erklärt sich bereit, sämtliche auswärtigen Truppen, die sich auf den Weg nach Kiel befinden, zurück zu schicken. Die Forderungen des Soldatenrates sind die Freilassung der Gemaßregelten des III. Geschwaders, die gerichtliche Untersuchung der Vorfälle vom 3. November und die Bestrafung der Schuldigen sowie die Untersuchung des geplanten Vorstoßes der Flotte gegen England. 17 Uhr: Information aller Marineteile über die Forderungen der Matrosen durch Souchon. Am Spätnachmittag ist kaum noch eine Kompanie in Kiel intakt. Die Macht liegt eindeutig in den Händen der aufständischen Matrosen. Triumphzug von der Wik bis zur Arrestanstalt in der Feldstraße von mehreren Tausend Matrosen. Freilassung der dort inhaftierten Kameraden. 19.30 Uhr: Ankunft der von der Berliner Reichsregierung entsandten Emissäre, Staatssekretär Haußmann und Gustav Noske (MSPD) auf dem Kieler Hauptbahnhof. Hier werden sie stürmisch von Matrosen begrüßt. Vom Bahnhof fahren die beiden direkt zum Wilhelmplatz, wo sie von Tausenden von Menschen erwartet werden. Noske, der auch kein klares Bild von der Lage in Kiel hat, stellt allgemeine Betrachtungen an und fordert in dieser explosiven Lage zur Bewahrung der Ordnung auf, worauf ihm großer Beifall gezollt wird. Als plötzlich von unbekannter Seite Schüsse in die Luft abgegeben wurden, löst sich die Masse sehr schnell auf.

20.00 Uhr: Versammlung von Matrosen und Arbeitervertretern im Kieler Gewerkschaftshaus. 40 Matrosen und 6 Arbeiter gründen den ersten Kieler Soldatenrat, der der erste Soldatenrat der Deutschen Revolution überhaupt ist. Der Soldatenrat verabschiedet die "14 Kieler Punkte". Politische Forderungen spielen kaum eine Rolle, Forderungen, die den Alltag der Soldaten betreffen, stehen im Vordergrund. 21.00 Uhr: Parallel dazu finden Verhandlungen zwischen Haußmann, Noske, hohen Offizieren und Matrosen im Stationsgebäude statt. Auch Gustav Garbe als Vertreter der Gewerkschaften und Lothar Popp für die USPD nimmt an dem Treffen teil. Popp übergibt Hausmann einen Zettel mit den Forderungen der Matrosen, in dem die Abschaffung der Krone, freie Wahlen, Pressefreiheit und die Freilassung aller politischen Gefangenen gefordert wird. Die aufgrund von Gouverneur Souchons Hilfegesuch nach Kiel entsandten sechs Truppeneinheiten entfalten keine Wirkung. Sie erreichen zwar Kiel. Jedoch sind einige davon ohne Führung, andere haben keine Waffengebrauchserlaubnis und die restlichen Truppen werden entwaffnet. Die ersten Auflösungserscheinungen im Heer zeigen sich deutlich. Nacht zum 5. November: Konstituierung des Arbeiterrates im Gewerkschaftshaus. Vorsitzender wird Gustav Garbe. Aus den Obleuten der Großbetriebe werden 28 Personen in den Arbeiterrat gewählt, jeweils 14 und MSPD und USPD. Dokumente:

Lothar Popp: „Morgens um 8 Uhr kamen unter der Führung des Heizers Podolski 260 Mann von der Besatzung der `Großer Kurfürst´ an die Stätte, wo abends vorher die Opfer gefallen waren, vorbei. Die Truppe machte Halt, Podolski schilderte die Ereignisse des gestrigen Abends und forderte auf, zum Gedenken und als Racheschwur, drei Hurras auszubringen. Zur selben Zeit erbrachen Mannschaften der 5. Kompanie der 1. Matrosen-Divison die Munitionskisten, bewaffneten sich und zogen nach dem `Eichhof´, um einen Teil der dort gefangen gehaltenen Kameraden mit Waffengewalt zu befreien. Die Scheu vor dem ersten Schuss, und dem vergießen von Bruderblut ließ diesen Plan jedoch nicht zur Ausführung gelangen… „ (Lothar Popp, „Ursprung und Entwicklung der Novemberrevolution 1918, Kiel 1918, S. III 14) Lothar Popp: „Die zur Brechung des Aufstandes bei der I. Torpedo-Division herangezogenen Mannschaften der I. Werft-Division machten mit diesen gemeinsame Sache, nachdem sie über den Sachverhalt aufgeklärt waren. Der Verlauf war folgender: In den Kasernen und Quartieren wurde kein Dienst gemacht. Alles stand alarmbereit. Den alten Leuten in der Torpedo-Divison hatte man die Waffen abgenommen. Nur Rekruten und sicheres Personal hatten Waffen behalten. Die ganze Werft-Division stand unter Gewehr und hatte Munition empfangen, um etwaige Unruhen zu unterdrücken. Jetzt kam der kritische Moment: `Torpedo-Division kompanieweise auf dem Kasernenhof antreten´. Mannschaften ohne Offiziere mit Waffen, so bauten sich alle Kompanien auf dem Kasernenhof auf. Hinter jeder Kompanie hatten sich die Kompanieführer und die Offiziere aufgestellt, um etwaige Äußerungen aufzufangen. Endlich stieg der Divisionskommandeur, Kapitän zur See Bartels, auf den Tisch, hielt eine Ansprache dem Sinne nach: `Wir Soldaten haben keine Ahnung von Politik, also haben wir uns auch nicht mit Politik zu befassen. Er schloss mit den Worten: Soldat soll gehorchen, Soldat muss gehorchen und Soldat gehorcht.´ Die Menge wurde ziemlich erregt, fing an zu pfeifen und zu rufen. Nachdem war wegtreten. Eine Anzahl der Kameraden der 1. Torpedo-Division hatte sich vor den Toren gesammelt und forderte die Kameraden auf, die Kasernen zu verlassen. Die Menge wurde immer größer und hin und her schoben sich die Massen. Endlich machte Kamerad Tümmel den Vorschlag, nochmals durch die Kasernen zu ziehen. Dieser Vorschlag wurde auch befolgt, alles was laufen konnte schloss sich unserem Zug an, und wir versammelten uns vor dem Stabsgebäude der I. Torpedo-Division. Kamerad Artelt wurde gleich vom Divisionskommandeur Bartels nach seinen Wünschen gefragt und im Verein mit noch zwei weiteren Kameraden legte ihm Kamerad Artelt die Forderungen der Mannschaften vor:
  1. Abdankung des Hohenzollernhauses
  2. Die Aufhebung des Belagerungszustandes
  3. Freilassung unserer gemaßregelten Kameraden vom 3. Geschwader
  4. Freilassung aller im Zuchthaus zu Zelle sitzenden Kameraden von der Matrosenerhebung im Jahre 1917
  5. Freilassung sämtlicher politischer Gefangener
  6. Einführung des allgemeinen gleichen und geheimen Wahlrechts für beide Geschlechter.“

(Lothar Popp: Ursprung und Entwicklung der Novemberrevolution …, Kiel 1918, S. III 15) Gustav Noske: „Die Leute hatten von meinen Kommen gehört. Dem Namen nach war ich vielen aus meiner Parlamentstätigkeit bekannt. Ohne Überlegung, was ich von ihrem Verhalten denken könnte, nahmen sie mich als Wortführer in Beschlag.“ (Gustav Noske, 1920, S. 11) Lothar Popp: „Ich ging von der Station zum Gewerkschaftshaus. Welch verändertes Bild. Links und rechts vom Eingang standen Maschinengewehre, der große Saal und das Restaurant war voll Infranterie, Matrosen und Arbeitern, die erregt und freudig die Ereignisse besprachen. Ein Bild bunter und bewegter als im Felde, denn es war naturgemäß ein ziemlich wirres Durcheinander. Es musste zunächst dafür gesorgt werden, die Massen wieder einigermaßen zu formieren, denn man befürchtete natürlich Angriffe von außerhalb, aber es gelang schnell, eine gewisse Einteilung und ein bestimmtes Kommando zu schaffen. In einigen der Zimmer und Bureaus hatte sich der Soldatenrat niedergelassen, der unverzüglich seine Arbeit begann.“ (Popp, Kiel 1918, S. III 22) Jonny Pump: Ich diente damals im Infanterie-Regiment Nr. 84 in Schleswig- Wir waren gerade in Feldgrau eingekleidet, um an die Front zu fahren. Wir waren ausgebildet, weil wir im März 1918 eingezogen worden sind. Früher hatten wir blaue Uniformen an.

Und dann wurden wir mittags oder vormittags verladen, um nach Kiel zu fahren, hier wären angeblich Unruhen ausgebrochen. Wie wir dann langsam in Kiel ankommen ist der Zug angehalten worden von entgegenkommenden Matrosen, und die winkten, dass wir stoppen mussten, und der Zug hielt dann hier am Bahnübergang Lübecker Chaussee. Ich selbst bin nicht ausgestiegen, sondern habe nur am Fenster geguckt, was da passieren sollte, denn mir war das nicht ganz richtig angenehm, jetzt auf Matrosen zu schießen. Wir hatten Gewehre mitgekriegt und Munition, und es hieß eben, in Kiel war ein Aufruhr ausgebrochen. Es war eine Leichtigkeit, aus dem Zug zu steigen, und das Elternhaus in 200 Metern Entfernung aufzusuchen. Die wohnten in der Lübecker Chaussee. Aber das tat ich nicht. Das konnte ich auch nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Ich war ja noch Soldat und hatte den Eid auf den Kaiser geschworen. Nur was sollten wir machen, wenn wir jetzt ausgeladen wären und müssten auf die entgegenkommenden Matrosen schießen. Das wäre ein Problem gewesen und da wäre mir auch ganz anders zumute gewesen. Wie ich mich da verhalten hätte, kann ich nicht sagen, aber es war ja nicht soweit gekommen, sondern der Zug, der ja jetzt ungefähr eine Stunde gehalten hatte, konnte nicht weiterfahren und somit mussten wir wieder zurückfahren. … Die Älteren, da waren einige, die aus dem Zug stiegen und verschwanden, die kamen nicht wieder zurück. …l Es ist ja Gott sei Dank nicht zur Schießerei gekommen, weil wir ja unseren Zug wieder in Bewegung setzten in Richtung Schleswig. Da kamen wir dann wieder nachts an. In Schleswig wurden wir ausgeladen und dann erfuhren wir, dass sich inzwischen der Arbeiter- und Soldatenrat gegründet hatte. In Schleswig, in den Garnisionen Schleswig; ich lag im Schloss Gottorp. Und man hatte den Regimentskommandeur bereits eingesperrt, also verhaftet.“ (Zitat bei Kuhl 191, S. 6 f). Lothar Popp „Während der Sitzung (Abends im Stationsgebäude – U.S.) kam dann und wann ein Matrose zu mir und sagte mir, das haben sie jetzt besetzt und das haben sie jetzt besetzt. …. Während dann die Offiziere und Noske und Haussmann immer noch darüber berieten, welche Reformen straffreie Rückkehr und Brot und all so ein Theater (gegen den Abbruch des Aufstandes angeboten werden sollte, Anm. Kuhl), da kam derselbe Matrose wieder und sagte zu mir: `So, jetzt haben wir das Stationsgebäude besetzt!´ Das war das Gebäude, in dem wir tagten! Das waren 80 Mann Infanterie drin, die hatten sie entwaffnet und das Gebäude besetzt.“ (Zeitat bei Kuhl 1991, S. 9)